Auszug aus der Autobiografie "1948 Ein Junge aus Thüringen"

von Rolf Schlöffel, MEDU Verlag 2014

Wilde Zeiten

Etwa 1959 kam ich das erste Mal mit der Rockmusik in Kontakt. Ein Mitschüler namens Bobby, sein Vater war Arzt, die Mutter stammte aus dem Westen, hatte einen großen Bruder, der älter als wir war. Aufgrund der guten Verwandtschaftsbeziehungen in den Westen war er mit den neuesten Schallplatten ausgestattet. Bobby war ein guter Kumpel. Er holte bei Besuchen dann immer den Schallplattenspieler und die  Rock´ n Roll Platten seines Bruders, wenn dieser nicht zu Hause war, aus dem Schrank. Diese Musik faszinierte uns junge Heranwachsende vom ersten Moment an, zumal auch die diversen Ausgaben der Zeitschrift „Bravo“ für zusätzliche Informationen aus dem damaligen Musikgeschäft sorgten.
Als dann die Beatles Anfang der 60´ger ihre Erfolgslaufbahn begannen, sprach sich dies auch bald bei uns herum. Die Mund zu Mund – Propaganda funktionierte ausgezeichnet. Da wir Schüler damals in der Schule Werkunterricht hatten, in dessen Rahmen uns als berufsvorbereitende Maßnahme auch die Grundzüge der Elektronik beigebracht wurden, hatten die Begabtesten auch das Zeug dazu, so genannte Rundfunkdetektoren mit primitivsten Mitteln selbst zu bauen. Tatsächlich konnte man mit diesen Dingern bei genauer Ausrichtung auf Kurzwelle sogar Radio Luxemburg empfangen. Das Empfangs- und Hörerlebnis hielt sich jedoch in Grenzen. Oft war der Empfang gestört. So musste unbedingt die neueste Errungenschaft der DDR-Radioproduktion, das tragbare Transistorradio „Stern Party“ , beschafft werden, welches für stolze 250 Ostmark ab 1962 in den Rundfunkläden zu haben war.
Mit einem Freund heuerte ich in den Sommerferien 1961 zwecks „Geldvermehrung“ im Frucht- und Gemüsegroßhandel in Gotha als Hilfskraft an. Der Vater von ihm war dort eine leitende Person. Wir mussten während unserer Arbeit im Außenposten Friedrichroda arbeiten und täglich die von Ferienheimen oder anderen Einrichtungen bestellte Ware mit dem Handwagen ausliefern. Besonders gern fuhren wir in ein katholisches Heim. Anscheinend hatte man dort noch gute Kontakte zu Einrichtungen im Westen und somit auch Devisen, die eine Sonderversorgung ermöglichte. Anders als die staatlichen Erholungsheime bekam dieses Heim auch Südfrüchte, wie zum Beispiel Apfelsinen und Bananen, und das mitten im Sommer. Die lieben Schwestern des Heimes bedachten die fleißigen Jungen immer mit Sonderrationen an Vitamin C - haltiger Nahrung. Auch sprangen für uns ab und zu einige Tafeln Westschokolade heraus. Natürlich waren wir ganz besonders nett zu den betagten Damen und bedankten uns artig für jede Gabe. So jedenfalls ging unser Arbeitseinsatz mit Erfolg und Freude zu Ende. Am Ende waren wir um etwa 350 Mark reicher. Das reichte also locker für den anstehenden Kauf des ersehnten Radios. Den Rest legte ich auf „die hohe Kante“ in meinen Spartopf.
In der ersten Hälfte 1962 war es dann soweit, die ersten Stern Party standen in den Geschäftsvitrinen. Ich schritt also stolz mit meinem sauer verdienten Geld zur Tat und war kurze Zeit später stolzer Besitzer des Objekts meiner Begierde. Noch heute verspüre ich den Geruch der Verpackung. Zu Hause angekommen, probierte ich sofort aus, wie der Empfang war. Ich konnte nun das erste Mal den Musiksender Radio Luxemburg über Kurzwelle einwandfrei empfangen. Besonders am Abend kamen immer Sendungen mit der neuesten Musik. Zunächst wurde vorrangig Rock´ n Roll, dann verstärkt auch die ersten Titel der Beatles gespielt. Besonders gut fand ich die lockere Art der Moderatoren, ganz anders als bei Übertragungen von Schlagern im Westradio oder gar erst recht im Ostradio. Es sprach sich dann auch schnell unter den Jugendlichen  herum, dass jeden Sonntag etwa zu ein Uhr Mittag die Musikcharts präsentiert wurden. Die Reihenfolge richtete sich wohl, wenn ich mich nicht täusche, nach Umfragen aus der „Bravo“. Nun waren fast alle Jugendlichen meiner Umgebung darauf fixiert, nur nicht die Übertragung am Sonntag zu verpassen. Am Montag wurde dann als Erstes in der Schulpause eine Auswertung gemacht. Als dann etwas später die Rolling Stones auf den Plan traten und in die Charts kamen, teilte sich die Fangemeinde in Beatlesfans und in Anhänger der Rolling Stones. Es entstanden dann zwischen beiden Gruppen regelrechte Streitereien, die manchmal auch mit einem blauen Auge endeten.
Zur gleichen Zeit waren meine Freunde und ich ja auch im Rahmen der Konfirmation beziehungsweise der Jugendweihe feierlich in den Erwachsenenkreis aufgenommen worden, was uns wesentlich mehr Freiheiten gab. Zum Zeichen dafür erhielten wir unsere ersten Personalausweise. Diese Freiheiten bestanden auch darin, dass man bis um zehn Abends von zu Hause abwesend sein durfte. So versammelten sich bei gutem Wetter nach dem Abendbrot die unterschiedlichsten Gruppen Jugendlicher an ihren Lieblingstreffplätzen und hörten gemeinsam der Musik aus den Transistorradios zu. Dann gründeten sich in der zweiten Hälfte 1962 in Gotha  beziehungsweise in Schmalkalden zwei Beatgruppen: die „Micados“ und  „The Polars“. Die Mitglieder dieser Gruppen bauten sich nach Vorbild der westlichen Beatbands ihre Verstärker selber und gaben sich den outfit der Beatles, also noch artige Haarschnitte und Jacken mit den zu dieser Zeit runden Ausschnitten im Kragenbereich. Dazu trugen sie weiße Hemden mit einem sehr schmalen Schlips. Zuerst traten sie fast jeden Sonntag von 14 bis 20 Uhr in der Stadthalle von Gotha auf.
Die Veranstaltung nannte sich „Tanztee“. Die Gothaer „Beatjünger, und Jüngerinnen, brachten sich rechtzeitig in Form. Mein Freund kroch dafür in Ermanglung eines Föns sogar mit den Kopf in den heißen Backofen, um seine Haare in Form zu bringen. Den Polars wollten wir es auch äußerlich nachmachen und besorgten uns dafür Anzugjacken mit ausgeschnittenen Kragen. Manche fixe Mutter schneiderte auch selbst in Ermanglung entsprechender Angebote im volkseigenen Handel die Bekleidung für ihren Sprössling. Die Mädchen kleideten sich ebenfalls sehr züchtig und trugen meistens toupierte Frisuren und fast ausschließlich Miniröcke. Während des Zurechtmachens zu Hause hörte man nebenbei die Charts von Radio Luxemburg und brachte sich so in die richtige Stimmung.
Spätestens um 15 Uhr war schon gleich nach dem Einlass die Halle voll. In den allermeisten Fällen saßen die Jungen und Mädchen am Anfang getrennt an den Tischen in Grüppchen.  Als dann der Vorhang aufging und die Polars loslegten, begann ein regelrechtes Wettrennen der Jungen in Richtung zur anderen Saalhälfte. Es kam auch schon mal vor, dass sich Jungen im Eifer des Gefechts in der Saalmitte umrannten. Das sorgte für ungemeine Heiterkeit bei den Mädchen. Die zu Fall gekommenen Jungen gingen dann mit feuerroten Köpfen wieder zu ihren Tischen zurück und mussten viel Spott ertragen. Für sie war gleich zu Beginn der Abend „gelaufen“. Wer es über die Tanzfläche zu dem Tisch, an dem das vorher ausgekuckte Mädchen saß, unbeschadet geschafft hatte, musste, bevor er endlich das Mädchen in den Arm nehmen konnte, erst einmal das Mädchen mit einem züchtigen „Darf ich bitten“ , so wie man es in der Tanzstunde gelernt hatte, zum Tanz auffordern. Die größte Blamage war es, wenn das Mädchen irgend so etwas wie „Bin schon reserviert“ entgegnete. Man zog dann wie ein begossener Pudel auf seinen Platz. Die Häme der Kumpels kam dann noch zu dem eigenen, schlechten Gefühl hinzu. Da galt es, erst mal wieder mit einem Gläschen Bier und einer Lulle (Zigarette) Selbstvertrauen zu tanken. Wenn mal die Auserwählte gnädig war und auf das Parkett folgte, wurde meistens so eine Art Rock´ n Roll getanzt. Wir nannten, warum auch immer, diesen Tanzstiel „Erfurter“. Im Publikum waren auch etwas Ältere als wir. Meistens waren es Leute, welche die Mitglieder der Polars oder der Micados persönlich kannten. Sie hatten sich schon vorab alle Tische genau an der Bühne reserviert. Hier traf ich Rosi wieder. Sie als ein älteres Mädchen war mittendrin in dieser „Insiderclique“, und ich traute mich einfach nicht, sie mal zum Tanz zu bitten, eigentlich sehr schade. Wir Jungspunde beneideten diese Leute, weil sich in den Pausen die Bandmitglieder an deren Tische setzten oder mit ihnen zusammen dann an die Bar in den ersten Stock, der Bühne gleich nebenan, gingen, um sich einen Fizz oder Flips, das waren damals angesagte alkoholische Shake´ s, zu genehmigen. Etwas waren wir schon neidisch. Wir Schüler waren arme Schlucker. Mehr als zwei bis drei Biere waren da nicht drin.
Aufregend wurde es für uns Burschen dann zum Schluss des Tanzabends. Es galt sich eine „Braut“ zu sichern, der man nach der Veranstaltung seinen „Schutz“ auf dem Heimweg angedeihen konnte. Also wurden nochmals bei dem letzten, langsamen Musiktitel, meisten bei dem Titel „Grazy Love“ von Paul Anka, den Wilfried sehr gut interpretierte, alle Register der Verführungskünste gezogen und das begehrte Mädchen eingehend bezirzt. War man ihr gewogen, ging es dann erst mal Richtung Stadt und dann so zu sagen als Abkürzung durch den Schlosspark, wo dann in den meisten Fällen einige Zärtlichkeiten ausgetauscht wurden. Wenn man Pech hatte, wohnte die „Braut“ ganz weit entlegen am anderen Ende von Gotha oder sogar auf einem Dorf. Mich hat der Weg auf ein Dorf niemals geführt, auch nicht per Taxi. Erstens litt meine Geldbörse immer an Schwindsucht und zweitens war mir das dann doch zu weit, um nach der Verabschiedung per Pedes einen weiten Heimweg anzutreten. Deshalb fragte ich das „Objekt meiner Begierde“ erst einmal im Vorfeld der Eroberung vorsichtig aus, wo sie denn wohne. Im Laufe der Zeit wussten wir dann in etwa auch, wen man „anbaggern“ konnte, um Spaß ohne „Leiden“ zu haben.
Aufgrund des großen Zuspruchs wurden bald die  Tanzveranstaltungen in der Stadthalle bald erweitert. Neben dem Tanztee am Sonntag öffneten sich die Pforten bereits schon am Sonnabend zu 19.00 Uhr. Ab 20.00 Uhr bis zur Polizeistunde um 24.00 Uhr ging es dann rund. Es waren immer schöne Wochenenden, auf die man sich die ganze Woche schon freute.
Unter der Woche versammelte sich unsere Klicke regelmäßig an den Nachmittagen in der Pinguineisbar am Neumarkt. An einem Milchshake hielt man sich den ganzen Nachmittag in Ermanglung der erforderlichen Barschaft fest. Es wurden hier die neuesten Neuigkeiten aus dem Musikgeschäft ausgetauscht und auch manchmal über begehrte Mädchen „getratscht“. Unsere Haare ließen wir uns auch bald bis über die Ohren wachsen, ganz nach Vorbild unserer Idole. Dies hatte auch was mit einer Art Protest gegen das „Spießbürgerliche“ im ganzen Umfeld und in unseren Familien zu tun. So ging alles seinen „sozialistischen“ Gang ( wie man damals so sagte) bis Mitte 1965. Wir waren bis dahin sehr glücklich mit dem Leben und unseren Freiheiten.
Ulbricht und seinem „Ziehsohn“ Honecker waren diese Entwicklungen sicherlich sehr unheimlich. Man fühlte den so genannten Sozialismus durch die Beatwelle, aber auch durch das weit verbreitete Westfernsehen, auf das Äußerste bedroht. Also musste energisch eingeschritten werden. Die Kampfreserve der Partei (SED) unter ihrem „Führer“ Erich Honecker eröffnete die Kampagne wider dem antisozialistischen Treiben in der DDR. Es kam von Staatsseite der Begriff „Gammler“ auf. Darunter verstand man Andersdenkende mit einem Outfit, das nicht den Vorstellungen der Partei- und FDJ- Führung entsprach. FDJ- Spitzel wurden unter die Jugendlichen geschmuggelt. Sie baldoverten aus, wer zu den Wortführern gehörte. Diese bekamen dann eine „Einladung“ zur Staatssicherheit und wurden dort erst mal verwarnt. Half dies nichts, verschwanden die Jugendlichen ganz schnell in Jugendwerkhöfen zur Abschreckung. So ging es auch einem Jungen aus unserer Klicke. Ich habe ihn dann nie wieder gesehen.

Was besonderes abscheulich und an das Mittelalter erinnerte war, dass Horden fanatischer FDJ´ ler durch die Straßen liefen und willkürlich Jugendliche mit langen Haaren schnappten, festhielten und ihnen mit Scheren die Haare in aller Öffentlichkeit abschnitten. Die biederen Bürger schauten dabei belustigt zu und feuerten auch noch diese Gauner an, „Denen“ es mal richtig zu zeigen, was Zucht und Ordnung ist- es war uns regelrecht zum Kotzen zu mute (aber im Westen, so wie ich es jetzt aus dem Fernsehen erfuhr, war es auch nicht besser). Ab Ende 1965 fing man dann auch an, die vielen Beatgruppen, die wie Pilze seit 1962 in jeder Stadt aus „dem Boden geschossen“ waren, zu verbieten, so auch in Gotha. Die Bandmitglieder wurden zunächst staatlicherseits gemaßregelt und sehr gegängelt. Der Namen „The Polars“ musste abgelegt werden. Mit vielen Tricks und Kniffen verstanden die Musiker dann doch, ab 1966 bis zu einem weiteren Verbot 1968 unter anderem unter der Bezeichnung „Wostoks“ aufzutreten. Uns Jugendlichen war das so ziemlich egal, wie die Gruppen sich dann nannten. Hauptsache die Musik stimmte. Namen sind Schall und Rauch, dachten wir uns. Wie die Jungs da vorn auf der Bühne darüber litten und wie sie sich sehr oft vor den selbstgefälligen Parteibonzen und FDJ- Provinzfürsten verbiegen mussten, wussten wir damals nicht. Ich hoffe, der Teufel hat die ganzen Unholde von damals bereits längst geholt !